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... Martin Morgenstern und Robert Zimmer

12. Juni 2023

In der Rubrik "5 Fragen an..." stellen wir Schopenhauer-Kennerinnen und -Kenner aus dem In- und Ausland vor. In dieser Folge beantworten unsere Fragen die Verantwortlichen der Ortsvereinigung "Saar" Martin Morgenstern und Robert Zimmer.


Wie sind Sie zur Philosophie Schopenhauers gekommen?

Martin Morgenstern: Schopenhauer lernte ich bereits als Schüler kennen. Mein Einstieg in die Philosophie war freilich Nietzsche, dessen Moral- und Religionskritik mir neue Sichtweisen vermittelten. Von Nietzsche war es dann nur ein kleiner Schritt zu seinem „Vorläufer“ Schopenhauer, den ich zunächst in einer von Hübscher herausgegebenen Textsammlung kennenlernte. Zu Beginn meines Studiums in Heidelberg schaffte ich mir nach und nach die einzelnen Bände der Gesamtausgabe von Hübscher an und las sie neben meiner Seminar-Lektüre. Anfangs war ich stark fasziniert von dem metaphysischen Zauber, der von Schopenhauers pessimistischer Weltdeutung ausging, doch hat mich bald auch seine humanitäre Grundhaltung beeindruckt und mich von Nietzsche abrücken lassen. Mit Schopenhauers pessimistischer Humanität, so sagte mir mein philosophischer Instinkt, ließ es sich leichter und besser leben als mit Nietzsches radikalen Anwandlungen. Im weiteren Verlaufe meines Studiums lernte ich den Kritischen Rationalismus kennen. Vor allem die Schriften Karl Poppers beeindruckten mich und haben meine philosophische Grundhaltung und mein Interesse an Fragen der Wissenschaftstheorie bestimmt. Mit dem erworbenen kritisch-analytischen Instrumentarium wandte ich mich wieder Schopenhauer zu und schrieb meine Dissertation „Schopenhauers Philosophie der Naturwissenschaft“ (1985), worin ich ihn auch als Vorläufer moderner Wissenschaftstheorie würdige.

Robert Zimmer: Durch meinen Freund Martin Morgenstern, den ich schon seit Studienzeiten kenne und der schon damals Schopenhauer hochhielt. Allerdings erreichte mich Schopenhauer erst spät, erst nach meinem ersten Examen. Während meines Studiums kam er nicht vor. Dort, und auch später an dem Lehrstuhl, an dem ich beschäftigt war, hatte ich sehr viel mit Hegel zu tun, was mich fast zur Verzweiflung trieb. Ich war ein chronisch Hegel-Geschädigter und empfand Schopenhauer als eine Befreiung: Hier ging es um das, was mich in der Philosophie wirklich interessierte, und zwar in einer Art, die auf konkreter Welterfahrung beruhte. Ein bedingungsloser Anhänger Schopenhauers bin ich allerdings nie geworden. So glaube ich bis heute, dass Schopenhauer kein echtes Verhältnis zur Politik und zur politischen Philosophie hatte. Hier ist jemand wie Popper für mich viel wichtiger geblieben.


Gibt es einen Aspekt an der Philosophie Schopenhauers, der Sie besonders interessiert?


Morgenstern: Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten der Philosophie Schopenhauers, die mich interessieren. Ich nenne zwei. Da ist zunächst die komplexe Problematik von Schopenhauers offiziellem Idealismus und seiner verborgenen Tendenz zum Realismus. Die von Kant geerbte Grundproblematik des „transzendentalen Idealismus“ zeigt sich deutlich in seiner Theorie der Anschauung. Die gegenläufigen, letztlich unvereinbaren Betrachtungen von Idealismus und Realismus, die in seinen Thesen von der „Welt als Vorstellung“ und der „Welt als Gehirnphänomen“ prägnant zum Ausdruck kommen, sind bei Schopenhauer nicht hinter einem sprachlich-begrifflichen Nebel verhüllt, sondern treten klar hervor. Seine Erkenntnistheorie bietet daher gerade wegen der vorbildlichen Klarheit seiner Sprache eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Probleme von Idealismus und Realismus zu studieren. Die bei Schopenhauer anzutreffende Grundproblematik zeigt sich immer wieder, wenn empirisch-wissenschaftliche Überlegungen zur „Widerlegung“ des Realismus verwendet werden. Ein aktuelles Beispiel ist der neurowissenschaftliche Konstruktivismus, der die Welt als „Konstrukt des Gehirns“ nachweisen möchte. Ein zweites mich besonders interessierendes Thema sind Schopenhauers Überlegungen zur Frage der Grenzen der Wissenschaften. Sein Versuch, die prinzipiellen Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis durch eine Analyse der wissenschaftlichen Methoden, insbesondere durch eine Analyse der kausalen Erklärung, zu ziehen, sind von besonderer Bedeutung. Sie sind nicht nur ein sinnvoller Ansatz zu Grenzziehung der Wissenschaften, sondern sie weisen Schopenhauer auch als Ahnherr moderner Wissenschaftstheorie aus. Die von ihm als metaphysische Ergänzung der Wissenschaften vorgenommene Deutung der „Welt als Wille“ ist freilich eine andere Sache.

Zimmer: Da ist zum einen Schopenhauers komplexe Anthropologie: Dass wir keine vernunftgesteuerten, sondern triebgesteuerte Wesen sind, aber auch gleichzeitig von der Art, dass sich der Wille in uns ein Licht aufsetzt und sich selbst erkennen kann. Schopenhauer hat unserem Menschenbild ganz neue Wege geöffnet. Zum zweiten die enge Beziehung zwischen Leben und Denken bei Schopenhauer. Die „Parerga und Paralipomena“ sind nicht zuletzt deshalb mein Lieblingsbuch Schopenhauers geblieben, weil er hier seine Philosophie immer wieder auf Alltagserfahrung herunterbricht und sich auch von dieser Alltagserfahrung inspirieren lässt.


Sie arbeiten u.a. auch zum Kritischen Rationalismus. Wie veträgt sich dies mit Ihrem Interesse an Schopenhauer?

Morgenstern: Auf den ersten Blick scheint es eine unüberbrückbare Kluft zwischen Schopenhauers Willensmetaphysik, Idealismus und Pessimismus auf der einen Seite und dem realistisch-wissenschaftsorientierten Kritischen Rationalismus auf der anderen Seite zu geben. Gleichwohl wird Schopenhauer von Kritischen Rationalisten, insbesondere von Popper und Hans Albert, durchaus geschätzt. Genauer besehen gibt es in der Tat einige zentrale Punkte in Schopenhauers Philosophie, die ihn für einen Kritischen Rationalisten anziehend machen. Schopenhauer ist ein Vorläufer moderner Wissenschaftstheorie und außerdem einer der Begründer einer hypothetisch-wissenschaftsorientierten Metaphysikauffassung, wie sie auch im Kritischen Rationalismus – allen Positivismus-Etiketten zum Trotz – vertreten wird. Sodann trifft sich Schopenhauers Religionskritik und seine Kritik des Theismus ganz mit der kritisch-rationalen Religions- und Theologiekritik von Hans Albert. Doch noch wichtiger für die kritisch-rationalen Sympathien ist Schopenhauers rational-aufklärerische Grundhaltung mit seinem ausgeprägten Willen zu Wahrheit und Klarheit. Es waren ja gerade seine polemischen Tiraden gegen Hegel, an die Popper bei seinem Angriff auf die „orakelnden Philosophen“ angeknüpft hat. Auch Schopenhauers pessimistische Geschichtsauffassung hat mit Poppers Kritik der historizistischen Geschichtsphilosophie mehr gemeinsam, als es zunächst scheinen mag.

Zimmer: Zunächst ist doch auffällig, wie positiv Schopenhauer von führenden Vertretern des Kritischen Rationalismus – wie Karl Popper oder Hans Albert – gesehen wird. Da ist zum einen die Gegnerschaft zum Hegelschen Obskurantismus und die gemeinsame Wertschätzung Kants; aber auch die klare und verständliche Sprache Schopenhauers sowie sein Bemühen, seine Philosophie an die empirischen Wissenschaften anzuschließen – und nicht wie Hegel die eigenen Spekulationen kurzerhand zur Wissenschaft zu erklären. Aber natürlich haben wir es hier mit ganz unterschiedlichen philosophischen Milieus zu tun, die sich für mich aber wunderbar ergänzen: Der Kern des Kritischen Rationalismus liegt für mich im Prinzip der kritischen Prüfung – also in der methodischen Ausrichtung. Schopenhauer dagegen ist für mich derjenige, der die großen Fragen der Philosophie angeht – die „Sinnfragen“, wenn Sie so wollen – und der mir Weltorientierung gibt. Kurz gesagt: Mit dem Kritischen Rationalismus arbeite ich, mit Schopenhauer lebe ich.


Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach Schopenhauer für aktuelle Diskurse?

Morgenstern: Ich beschränke mich auf ein paar Beobachtungen. Ein Schwerpunkt der zeitgenössischen Diskussion ist sicher die analytische Philosophie des Geistes, die nach dem Wiederaufleben der Metaphysik in der analytischen Philosophie in den letzten Jahrzehnten entstanden ist. Im Zentrum dieser stark von den Neurowissenschaften bestimmten Debatte steht das Leib-Seele-Problem sowie die Frage nach der Freiheit des Willens. Schopenhauer gehört zwar zur Vorgeschichte der psychophysischen Identitätstheorie, doch findet in diesem Kontext eher seine Analyse des Freiheitsbegriffs gelegentlich Beachtung. Die in der jüngeren Vergangenheit geführten Diskussionen um die Evolutionäre Erkenntnistheorie hatten einige Berührungspunkte mit Schopenhauers physiologischer Kant-Deutung, doch blieb seine prädarwinistische Sicht weitgehend unbeachtet. In den Diskussionen der Umwelt- und Tierethik taucht Schopenhauers Mitleidsethik recht häufig auf, wenn auch meist unter historischen Gesichtspunkten. Schopenhauer war schließlich ein Vorkämpfer des Tierschutzes und auch einer der ersten, der, gestützt auf seine metaphysische Konzeption, auch kritische Blicke auf die Beherrschung und Ausbeutung der Natur durch den Menschen warf.

Zimmer: Schopenhauer ist leider bis heute ein Stiefkind der deutschen akademischen Philosophie geblieben und muss hinter Nietzsche und Freud weit zurücktreten. In einem kürzlich in einem renommierten Verlag erschienenen Handbuch zur Ontologie wird er nicht einmal erwähnt. Dabei könnte er eine wichtige Rolle u.a. in der philosophischen Anthropologie, in der Umweltethik oder der Philosophie des Geistes spielen.


Wo sehen Sie Desiderate in der akademischen und außerakademischen Beschäftigung mit Schopenhauer?


Morgenstern: Eine Thematik, die meines Erachtens noch mehr Aufmerksamkeit verdient, sind die anthropologischen Inhalte von Schopenhauers Philosophie. Dass seine metaphysische Konzeption des triebhaft-unbewussten Willens die Psychoanalyse Freuds und die moderne Tiefenpsychologie teilweise vorweggenommen und auch beeinflusst hat, ist mittlerweile durch Studien hinreichend belegt. Doch Schopenhauers Philosophie scheint auch darüber hinaus noch eine Fülle von psychologischen Einsichten und Hypothesen zu enthalten, die ein (nicht nur fachwissenschaftlich) lohnendes Studienobjekt darstellen dürften. In dieser Hinsicht scheint auch seine pessimistische Lebensbeschreibung mitsamt seinen Betrachtungen zur Lebensweisheit noch einiges zu bieten zu haben. Dass Schopenhauers Philosophie auch und gerade außerhalb des akademischen Betriebes immer wieder auf Interesse stößt, beruht vor allem darauf, dass er über die Grundfragen des menschlichen Lebens Wichtiges zu sagen hat, und zwar in einer klaren verständlichen Sprache. Schopenhauer kann dabei helfen, wenn man sich über die Fragen nach Glück und Sinn des Lebens, nach Gott, Tod und Vergänglichkeit klarer werden möchte. Wer sich mit Schopenhauer befasst, wird unvermeidlich mit der Frage konfrontiert, was nach Abzug von Übertreibungen und Zuspitzungen an seiner pessimistischen Welt- und Lebensauffassung haltbar ist. Diese Aufgabe stellt sich für jeden Leser seiner Schriften. In diesem Sinne wird Schopenhauer auch in Zukunft gelesen werden.

Zimmer: Es scheint mir immer noch zu wenig wahrgenommen zu werden, dass Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“ keine Zitatensammlung für den bürgerlichen Festtagskalender sind, sondern dass er hier seiner Ethik eine pragmatische Klugheitslehre an die Seite gestellt und einen wichtigen Beitrag zu dem geliefert hat, was wir heute Philosophie der Lebenskunst nennen. Auch scheint mir Schopenhauer als ökologisch orientierter Denker noch nicht wirklich durchgedrungen zu sein – vielleicht weil die Schopenhauerianer nicht viel mit Ökologie und die Ökologen nicht viel mit Schopenhauer am Hut haben. Aber Schopenhauer, der die Wesenseinheit von Mensch, Tier und Natur behauptete, war ein Grüner avant la lettre. |
 

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