... Jürgen Brunner

22. August 2025

In der Rubrik "5 Fragen an..." stellen wir Schopenhauer-Kennerinnen und -Kenner aus dem In- und Ausland vor. In dieser Folge beantwortet unsere Fragen der Philosoph und Psychiater Jürgen Brunner.


1. Wie sind Sie zur Philosophie Schopenhauers gekommen?

Auf der Suche nach dem Glück habe ich mit 17 Jahren die „Aphorismen zur Lebensweisheit“ gelesen. Bald danach habe ich mich an die „Preisschrift über die Freiheit des Willens“ herangewagt. Diese Lektüre hat mich für die Philosophie begeistert und mein Denken nachhaltig geprägt. Meine Begeisterung für Schopenhauer hält bis heute an. Besonders angetan bin ich von der analytischen Klarheit der Begriffsdefinitionen, der glasklaren Argumentation und nicht zuletzt von der Schönheit der Sprache Schopenhauers.

2. Welche Rolle spielt die Philosophie Schopenhauers für Ihre philosophische Arbeit?

Seit meiner ersten Auseinandersetzung mit Schopenhauers Preisschrift in jungen Jahren hat mich die Frage nach der Willensfreiheit nicht mehr losgelassen. Ausgehend von Schopenhauer hielt ich lange den Determinismus für wahr und Willensfreiheit für eine Illusion. Vermeintlich wurde der Determinismus vor einigen Jahren durch neurobiologische Befunde bestätigt. Inzwischen vertrete ich die Gegenposition und halte den fähigkeitsbasierten Libertarismus für gut begründet. Demnach sind wir fähig, in einer konkreten Entscheidungssituation so oder anders zu handeln. Über Libertarismus habe ich viel von Geert Keil gelernt.

3. Gibt es einen Aspekt an der Philosophie Schopenhauers, der Sie besonders interessiert?

Besonders interessiert mich nach wie vor die Frage nach der Willensfreiheit. Um Schopenhauers Position auf einer tieferen Ebene zu verstehen, habe ich mich eingehender mit seiner Kausalitätstheorie und seiner Handlungstheorie unter Berücksichtigung des handschriftlichen Nachlasses beschäftigt. Hierbei zeigen sich gravierende systematische Entwicklungen von der ersten Auflage (1813) bis zur Neufassung (1847) seiner Dissertation („Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“). In meiner philosophischen Dissertation, die 2025 in der Reihe "Kant-Forschungen" bei Meiner erschienen ist, geht es ebenfalls um das Thema Willensfreiheit, allerdings nicht bei Schopenhauer, sondern bei Immanuel Kant und Alexander Gottlieb Baumgarten. In dieser Arbeit habe ich die folgenden Forschungsfragen untersucht: Wie kann man sich Kant zufolge für das Böse entscheiden? Inwiefern ist eine böse Handlung als frei anzusehen? Die übergeordnete These lautet: Kants Theorie des radikalen Bösen ist mit seiner Konzeption der Freiheit als Fähigkeit zur Autonomie vereinbar. Für diese Arbeit hat meine vorherige intensive Beschäftigung mit Schopenhauers Theorie der Willensfreiheit den Weg geebnet.

4. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach Schopenhauer für aktuelle Diskurse?

Für die Begründung von moralischer Verantwortlichkeit können wir von Schopenhauer lernen, dass die charakterliche Disposition eine wesentliche Rolle spielt. Handlungen in konkreten Entscheidungssituationen werden beeinflusst durch angeborene Eigenschaften, Prägungen, Lernerfahrungen, Einstellungen, Gewohnheiten und Motive. In der Gegenwartsphilosophie wird die Bedeutung der charakterlichen Disposition für die Begründung von Verantwortlichkeit bisher erst ansatzweise beachtet. Robert Kane etwa verweist auf den Stellenwert von Handlungen oder Entscheidungen, die den Charakter prägen und dadurch zukünftige moralische Entscheidungen beeinflussen. Neuere vielversprechende Ansätze (attributionism) lassen die Selbstkonstitution des Charakters, Einstellungen und Haltungen (attitudes) für die Begründung von moralischer Verantwortlichkeit besonders hervortreten.

5. Wo sehen Sie Entwicklungspotentiale in der Auseinandersetzung mit Schopenhauer?

In der heutigen Philosophie des Geistes wird der Begriff der Materie neu gedacht, weil der reduktive Physikalismus mit schwerwiegenden Erklärungslücken konfrontiert ist. Insbesondere erlebt aktuell der Panpsychismus eine bemerkenswerte Renaissance. Der Panpsychismus wird in der Gegenwartsphilosophie weiter ausdifferenziert und theoretisch elaboriert (Godehard Brüntrup, David Chalmers). Nach diesen innovativen Ansätzen, die an eine lange philosophische Tradition anknüpfen, haben bereits die basalen physischen Entitäten, aus denen das Universum aufgebaut ist, protomentale intrinsische Eigenschaften. Elementarformen des Mentalen und Intentionalen sind demnach bereits weit unten im Stufenbau der Wirklichkeit anzunehmen. Hier zeigen sich erstaunliche Parallelen zu Schopenhauers Metaphysik, die ein Desiderat der Forschung darstellen. |
 
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