
Schopenhauer in Brasilien
8. Juli 2024 | Gastbeitrag
Wie wird Schopenhauer in Brasilien rezipiert? Ein Gespräch zwischen Maria Cacciola und William Massei Jr.
Maria Cacciola: Schopenhauer ist vor allem zunächst als Literat aufgenommen worden und nicht unbedingt als Philosoph. Es gehörte sich unter den höher gebildeten Bürgern im 19. Jahrhundert, ihn zu kennen. Akademisch hat es hingegen länger gedauert, bis er endlich bekannt wurde. Als ich anfing, mich mit ihm zu beschäftigen, gab es meines Erachtens nur eine akademische Arbeit über ihn („A outra face do nada“ – dt. Ausg. „Jenseits des Willens zum Leben“ von Muriel Maia-Flickinger) Nach dem Erscheinen meiner Doktorarbeit („Schopenhauer e a Questão do Dogmatismo“) ist dann ein neues Interesse für ihn erwacht. Später haben ehemalige Studenten und Doktoranden, die ich an der Universidade de São Paulo betreut habe, sowie Kollegen wie Oswaldo Giacóia Jr. in Campinas eine neue Generation von Schopenhauer-Forschern ausgebildet. Die ehemaligen Doktoranden und Kollegen sind heutzutage selbst Schopenhauer-Forscher und lehren die Philosophie Schopenhauers an verschiedenen Universitäten in Brasilien. Hinzukamen die „Schopenhauer-Kolloquien“, die zuerst von Prof. Jair Barbosa in Curitiba organisiert wurden, und inzwischen bereits zehn Mal stattgefunden haben. Diese Kolloquien haben es Schopenhauer-Forschern aus der ganzen Welt ermöglicht, ihre Forschung vorzustellen. Nicht zu vergessen die zahlreichen Übersetzungen und Teilübersetzungen, die Schopenhauers Philosophie bekannt und zugänglich gemacht haben.
Massei Jr.: Zurück zu den Anfängen der Schopenhauer Rezeption im 19. Jahrhundert: Es ist bekannt, dass einer unserer größten Schriftsteller, Machado de Assis, Schopenhauers Hauptwerke gelesen hat. Gibt es andere Autoren, von denen man sagen kann, dass sie von Schopenhauer beeinflusst worden sind?
Cacciola: Brasilien ist auch ein Land vieler Kontraste und Ungeichheiten. In unserer Gesellschaft gibt es im alltäglichen Leben vielfältige leidvolle Erfahrungen, sei es politisch, sozial oder wirtschaftlich. Gleichzeitig existiert eine große Hoffnung, dass dieses Leiden überwunden werden kann. Deshalb haben die Interpretationen von Max Horkheimer, Alfred Schmidt u. a., die eher einen links-orientierten Zweig der Schopenhauer Forschung ausmachen, einen so großen Widerhall in Brasilien gefunden. Zudem findet Schopenhauers Kritik der akademischen Philosophie, die ihm einen bestimmten disruptiven Elan, eine Radikalität verleiht, ihre Zuhörer in der brasilianischen Akademielandschaft und Gesellschaft.
Massei Jr.: Kann es darüber hinaus auch der Fall sein, dass Schopenhauers Beschreibung der modernen Gesellschaft, besonders der europäischen Gesellschaft nach dem Aufbruch der Industrialisierung, dieselben Ungleichheiten und Leiden, die wir immer noch in Brasilien erleben, thematisiert, und deshalb eine größere Identifizierung und Begeisterung für ihn in Brasilien festzustellen ist?
Cacciola: Auf jeden Fall!
Massei Jr.: In welche Richtung wird sich Ihrer Meinung nach die zukünftige Schopenhauer-Forschung in Brasilien bewegen? Kann man schon über Tendenzen sprechen?
Cacciola: Das ist schwer vorherzusagen. Ich glaube, dass die sozial-politische Tendenz der links orientierten Forschung von der jüngeren Forschung weiter vorangebracht wird. Aber mit Gewissheit lässt sich vor allem sagen, dass Schopenhauer auch weiterhin erforscht und begeistert gelesen werden wird.
Massei Jr.: Vielen Dank für das Gespräch.
Cacciola: Ich danke ebenfalls. |
Zur Person
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Maria Lúcia Cacciola ist emeritierte Professorin an der Universidade de Sao Paulo (USP). Sie hat mehrere Werke Schopenhauers ins Portugiesische übersetzt und u.a. ein einflussreiches Buch über Schopenhauer und den Dogmatismus ("Schopenhauer e a Questao do Dogmatismo") in Brasilien veröffentlicht. Sie hat viele aktuelle Schopenhauer-Forscher in Brasilien ausgebildet.
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William Massei Jr. forscht zu Schopenhauer und ist zusammen mit Matthias Koßler Herausgeber der Jubiläumsausgabe der "Welt als Wille und Vorstellung" (1819), die 2020 bei Meiner erschienen ist. Er arbeitet zur Zeit an der Korrektur von Nachschriften zur Ethik-Vorlesung Schleiermachers von 1805/1806.