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"Unendliches Bewusstsein –

Berkeleys Idealismus und dessen kritische Weiterentwicklung bei Kant und Schopenhauer"


27. Dezember 2023 | Gastbeitrag


Von Jan Kerkmann

 

Der erkenntnistheoretische Idealismus wird zumeist mit der Auffassung konnotiert, dass das Seiende im Ganzen keine bewusstseinsunabhängige Realität besitze. In der bisherigen Forschung wurden die Positionen George Berkeleys, Immanuel Kants und Arthur Schopenhauers noch nicht systematisch miteinander verglichen. Ihre Parallelisierung und Abgrenzung soll in der hier vorgelegten Untersuchung dazu dienen, eine Entwicklungsgeschichte des Idealismus zu dokumentieren, die in Schopenhauers Philosophie ihren Kulminations- und Endpunkt findet. Diese Geschichte umfasst den ideenhistorischen Zeitraum von 1710 – dem Erscheinungsjahr von Berkeleys Hauptwerk A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge – bis zum Jahre 1844, in dem Schopenhauer den zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung publizierte.

Im III. Hauptteil der Monographie wird Arthur Schopenhauers Verhältnis zum Idealismus im Allgemeinen sowie zu dessen Protagonisten Berkeley und Kant im Besonderen ausführlich erörtert. Schopenhauer begreift sich zweifellos als authentischer Schüler Kants. Kants Beibehaltung des verstandestranszendenten Dinges an sich kritisiert Schopenhauer aber zugleich als sachlich unbegründeten Rückschritt hinter Berkeleys Prinzip des esse est percipi, insofern das Ding an sich von Kant als materialer Grund der Erscheinungswelt eingeführt wird. Auf dieser Basis wird in der Arbeit gezeigt, wie Schopenhauer den Idealismus Berkeleys – über Kant hinausgehend und in eigener Sache modifiziert – übernimmt. Um auch möglichen Wandlungen des Idealismus-Verständnisses bei Schopenhauer werkgenetisch nachgehen zu können, werden die einleitenden Paragraphen 1–7 der Welt als Wille und Vorstellung und das im zweiten Band des Hauptwerkes (1844) angesiedelte Kapitel Zur idealistischen Grundansicht direkt aufeinander bezogen.

Dass Schopenhauer seinem Lehrer Kant in dem signifikanten Vorbehalt gegen den genuinen Idealismus Berkeleys ähnelt, wird in der Monographie anschließend unter zwei Aspekten konkretisiert: Zum einen wird in naturphilosophischer Hinsicht und anhand der physiologischen Rekonstruktion des Intellekts dargelegt, dass Schopenhauer das vermeintlich unhintergehbare, transzendentale Subjekt über seine naturalistische Bedingtheit aufzuklären sucht. Zum anderen wird in metaphysischer Perspektive illustriert, wie Schopenhauer die Materie gegen den konsequenten Idealismus aufwertet, indem er sie als Sichtbarkeit des Willens entschlüsselt. Um die Verbindung von physiologischer Erkenntnistheorie und philosophischem Materialismus bei Schopenhauer zu vertiefen, werden die aus dem zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung (1844) stammenden Kapitel Von der Materie und Objektive Ansicht des Intellekts berücksichtigt.

Darauf aufbauend untersucht die Arbeit, inwieweit die willensmetaphysische Ausdeutung der Materie mit Schopenhauers affirmativer Übernahme der idealistischen Lehre Berkeleys respektive mit dem Idealismus überhaupt in Einklang zu bringen ist. Nach Berkeley – und auch nach Schopenhauer selbst – muss das Existenzpostulat einer nicht wahrnehmbaren Materie als unzulässige Abstraktion des sich selbst vergessenden Subjekts beurteilt werden. Gerade deshalb ist zu fragen, ob Schopenhauers Willensmetaphysik nicht auch oder sogar primär als einheitliche Antwort auf den idealistischen Empirismus Berkeleys und den transzendentalen Idealismus Kants motiviert ist. Demzufolge sucht der Verfasser der Welt als Wille und Vorstellung einer nicht nur bei Berkeley, sondern auch bei Kant diagnostizierten – und von Schopenhauer nahezu vollständig mit dem Idealismus gleichgesetzten – Reduktion der Dinge auf ihr Vorstellung-Sein entgegenzuwirken.

Um diese These zu untermauern, wendet sich die Monographie dem ebenso wichtigen wie kontrovers diskutierten Analogieschluss aus den §§ 18 und 19 des Hauptwerkes zu. Hierbei wird Schopenhauers ausdrückliche Versicherung aufgegriffen, dass sich das wahre Wesen beziehungsweise die Dynamik des Lebendigen nur dann nicht in dem idealistischen Status relativer, von einem erkennenden Subjekt abhängiger Bewusstseinsphänomene erschöpft, insofern und solange sich in den Vorstellungen und in der gesamten Natur der Wille umfassend objektiviert. Weil der letzte große Systemdenker Europas aber noch im Spätwerk an dem – von Descartes etablierten – erkenntnistheoretischen Primat der idealistischen Grundansicht festhalten möchte, erreicht der seit Platons Sophistes ausgefochtene Streit zwischen Idealismus und Materialismus in Schopenhauers Willensmetaphysik seine philosophiegeschichtliche Gipfelhöhe. Schopenhauer soll in dieser Arbeit folglich als derjenige Denker erschlossen und anerkannt werden, der wie kein Zweiter die unausweichlichen Aporien vergegenwärtigt hat, die sich in der Versöhnung der ontologischen Fundamentaldisjunktion zwischen dem Idealismus und dem Materialismus ergeben müssen. |

Jan Kerkmann: Unendliches Bewusstsein. Berkeleys Idealismus und dessen kritische Weiterentwicklung bei Kant und Schopenhauer. Berlin 2023. | mehr erfahren (externe Verlagsseite)

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