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Das Problem des Dinges an sich


24. November 2023 | Gastbeitrag

 

Wie verändert Schopenhauer den Blick auf die Frage nach dem Ding an sich? Wie steht er diesbezüglich zu Kant? Ein Gespräch zwischen Tom Bildstein und Raphael Gebrecht.


Tom Bildstein: Der Titel Deiner Dissertation lautet Wandlungen des Transzendentalen – Das Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer. Die Formel „Wandlungen des Transzendentalen“ hat meiner Meinung nach etwas Rätselhaftes an sich, weil es gewissermaßen auf ein weitreichenderes Phänomen hindeutet als die von Kant und Schopenhauer durchgeführte Modifikation der Transzendentalphilosophie. Worauf zielst Du genau mit dem Ausdruck „Wandlungen des Transzendentalen“ ab? Man könnte meinen, dass Du mit dem Begriff der Wandlung, im Gegensatz zur Umwandlung, die eigentlich immer ein aktives Subjekt voraussetzt, auf etwas hinauswillst, das sich (beinah hegelianisch) von allein weiterentwickelt. Dieses, was sich wandelt, nennst Du „das Transzendentale“. Auch hier stelle ich mir die Frage, was genau Du damit meinst. Handelt es sich einfach um eine Substantivierung des kantischen Adjektivs „transzendental“ oder weist es vielmehr auf ein Phänomen hin, das älter als seine kantische und schopenhauersche Wandlung ist?

Raphael Gebrecht: Das ist eine gute Frage. Zunächst muss ich zu dem Titel sagen, dass es sich dabei um eine Abweichung von meinem originalen Titel handelt, die aus Publikationsgründen vorgenommen wurde. Der Titel meiner Dissertation lautete „Transzendentaler Idealismus und Metaphysik des Willens“, zu welchem noch ein sehr langer, nahezu barocker Untertitel gehörte. Das Problem meines Titels war, dass er, zum einen, zu nah an Rudolf Malters Standardwerk Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens herankam. Zum anderen suchten wir nach einer etwas griffigeren Variante, die auch eine breitere Leserschaft anspricht. Trotzdem stehe ich inhaltlich zu diesem Titel, da sich die Transzendentalphilosophie bei Kant selbst, aber auch in der nachkantischen Konstellation vom Deutschen Idealismus bis zu Schopenhauer stark gewandelt hat. Ich gehe also von Kants begrifflicher Prägung aus, ohne auf die reichhaltigen Vorläufer seit der Scholastik einzugehen. Für Kant nahm der Begriff „transzendental“ in unterschiedlichen Kontexten, verschiedene Funktionen wahr. Insbesondere im Bereich der Ideen und deren praktischer Bedeutung ist „transzendental“ mit „metaphysisch“ gleichzusetzen, was für die Theorie regulative, für die Praxis konstitutive Potentiale entfaltet. Kant spricht also nicht nur mit Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt von „transzendental“, wie nach der Einleitung in die Kritik der reinen Vernunft vermutet werden könnte. In der Kritik der Urteilskraft werden beispielsweise weitere Verwendungsweisen mit Blick auf die Ästhetik und die Teleologie ausgeschöpft. Das heißt letztendlich, dass für Kant die Transzendentalphilosophie selbst eine dynamische Angelegenheit ist, welche unterschiedliche Verwendungsweisen der Vernunft, in unterschiedlichen Bereichen etabliert, ohne ihre einheitsstiftende Funktion preiszugeben. Auch der Begriff des Ideals des höchsten Guts als Bedingung der Möglichkeit einer Welt unter moralischen Gesetzen ändert seinen systematischen Stellenwert und seine Funktion von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Kritik der Urteilskraft erheblich und bildet gleichzeitig den Schlussstein aller kritischen Bemühungen. Daran sieht man, dass selbst Kant Entwicklungen in seiner eigenen Terminologie durchgeführt hat. Darüber hinaus gibt es neben Schopenhauer noch andere Versionen der Transzendentalphilosophie, insbesondere die des frühen Fichtes und Schellings, der sein abschließendes Frühwerk sogar System des transzendentalen Idealismus nannte. Ich denke aber, dass der Plural „Wandlungen“ allein mit Blick auf Schopenhauer ebenfalls angemessen ist, da auch er „transzendental“ nicht einheitlich verwendet und je nach Perspektive auf die Welt ändert. Dies ist nach meiner Interpretation schon dadurch zu sehen, dass Schopenhauers Hauptwerk als subjektivitätstheoretische Befreiungsgeschichte zu lesen ist, die mit der Verneinung des Willens im vierten Buch endet. Die „erkenntniskritisch-transzendentalen“ Bedingungen geben den Auftakt zu einer Entwicklung, die es ermöglichen soll, den Willen als Ding an sich in kritischen Grenzen zu erfahren und letztlich als negatives Grundprinzip zu verneinen. Diese Erkenntnis kann aber innerhalb kantischer Grundlinien nicht theoretisch, sondern nur praktisch (in gewissen Grenzen auch ästhetisch) begründet werden, was zu Spannungen in Schopenhauers System führt. Daher glaube ich, dass beide Denker systemimmanente „Wandlungen“ oder Entwicklungen des Begriffs „Transzendentalphilosophie“ durchgeführt haben, die eine vielseitige und reichhaltige Gestaltung ihrer Konzeptionen in allen philosophischen Kerndisziplinen ermöglicht. Dass Schopenhauer (wie auch Fichte und Schelling) letztlich etwas anderes unter „transzendental“ verstehen und fast schon gewaltsame Umdeutungen einiger Lehrstücke Kants vornahmen, liegt auf der Hand. Der Begriff „Transzendental“ hat also einige Umgestaltungen durchlaufen, die uns aus heutiger Sicht mit einer Pluralität verschiedener Verwendungsweisen in unterschiedlichen Kontexten konfrontieren. In diesem Sinne verwende ich „Wandlungen“ in einem historisch-kritischen oder textexegetischen Sinn und nicht hegelianisch, obwohl es interessant wäre zu untersuchen, ob der Begriff des Transzendentalen in seiner logischen Struktur ein dialektisches Wandlungspotenzial besitzt und so auf immanente Veränderung hin angelegt ist.
 
Bildstein: Der Untertitel Deiner Arbeit lautet „Das Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer“. Die Formulierung „Problem des Dinges an sich“ stammt nicht aus der Feder der beiden Philosophen, hat sich dennoch im Wortschatz der Kant- und Schopenhauer-Interpreten gefestigt. Ich denke, dass man behaupten kann, dass das Ding an sich für Kant und Schopenhauer eher als die Lösung eines größeren Problems, jenes des Solipsismus, den Schopenhauer mit dem „theoretischen Egoismus“ gleichsetzt, verstanden werden kann. Schopenhauer nimmt den Begriff des „Dinges an sich“ in seinem Werk als „stehende Formel“ auf und entscheidet sich bewusst dafür, seine leibliche Erfahrung des Willens, die er per analogiam auf die Welt überträgt, mit dem kantischen Ding an sich gleichzusetzen, um eine einseitige Wirklichkeitsanschauung, wie man sie im absoluten Idealismus wiederfinden kann, zu vermeiden. Wenn das Ding an sich als Formel problematisch für Schopenhauer gewesen wäre, hätte er also sicherlich nicht daran gezweifelt, einen anderen Begriff für seine metaphysische Weltdeutung zu übernehmen. Wie muss man also das, was die Kant- und Schopenhauer-Interpreten, „das Problem des Dinges an sich“ nennen, verstehen?

Gebrecht: Die kurze Antwort würde etwa so lauten, dass eine einheitliche Interpretation des Begriffs „Ding an sich“ bei Kant und bei Schopenhauer für mich ein Problem darstellt, das ich zum Ausgangspunkt meiner Arbeit gemacht habe. Ich denke aber, dass ich mit dieser „Problemstellung“ nicht alleine bin. In der Sekundärliteratur gibt es sowohl zu Kant als auch zu Schopenhauer, holzschnittartig gefasst, drei große Interpretationsrichtungen, die alle an dem Begriff des Transzendentalen und der damit verbundenen Verwendungsweise des Ding-an-sich-Begriffs anschließen. Die erste ist wissenschaftstheoretischer Natur und wird in Bezug auf Kant durch die Neukantianer, in Bezug auf Schopenhauer etwa durch Morgenstern und Birnbacher vertreten. Die zweite entspricht der „Zwei-Welten-Lehre“, die eine metaphysische Interpretationsweise des Dinges an sich als eigene intelligible Welt aufzustellen versucht. Letzteres ist bei Schopenhauer besonders schwierig, da er von einer erfahrungsorientierteren Grundstellung ausgeht und eigentlich alles Intelligible in irgendeiner Form auf Anschauungen zurückführt. Die dritte Verwendungsweise, die ich in meiner Arbeit bevorzuge, orientiert sich an einer Form der Zwei-Aspekte-Theorie, die jeden Gegenstand oder „die Welt“ subjektivitätstheoretisch aus zwei unterschiedlichen Perspektiven wahrnimmt. Bei Kant handelt es sich dabei um Begriff (Apperzeption) und sinnliche Anschauung, bei Schopenhauer um Wille und Vorstellung. Die großen, auch historisch erkennbaren Streitigkeiten über die Stellung und Konzeptzion des Dinges an sich zeigen, dass zunächst rezeptionsgeschichtlich durchaus ein Problem in der Verwendungsweise des Begriffs bei beiden Denkern gesehen wurde, wie Du bereits richtig angedeutet hast. Das hängt meines Erachtens wiederum mit der unterschiedlichen Verwendungsweise dieses Begriffs zusammen. Kant bestimmt den Begriff des Dinges an sich als „problematisch“ und als negativen Grenzbegriff. Auch er sieht ihn folglich als Problem an. Allerdings in anderer Hinsicht: Problematisch ist die Hypostasierung von Begriffen, denen nur durch sinnliche Anschauung Wirklichkeit zukommt. Die Vermutung eines schlechthin jenseits aller Sinnlichkeit existierenden Dings ist eine unbeweisbare Annahme, die zwar logisch gedacht, aber nicht erkannt werden kann. Die Lösung liegt in der kritischen Begrenzung unserer Erkenntniskräfte auf den Bereich möglicher Erfahrung, die eben keine Dinge an sich, jenseits unserer subjektiven Vermögensleistungen, zu erkennen gibt. Schopenhauer ringt ja nach eigener Auskunft, wie Du richtig sagst, sichtlich mit dem Ding an sich-Begriff, da der Wille offensichtlich kein Ding ist. Trotzdem ist die kantische Intention, den Umfang und die Grenzen unserer Erkenntnis genau zu bestimmen, valide und für Schopenhauer mit dem Begriff des Dinges an sich unzertrennlich verbunden, weswegen er ihn unter Vorbehalt „als stehende Formel“ beibehält. Ich denke, dass bei beiden der Solipsismus oder auch der „empirische Idealismus“ Berkeleys eine (sekundäre) Rolle spielt. Für beide waren Traumwelten und die Ablehnung der empirischen Außenwelt eigentlich keine ernstzunehmenden Theorien. Allerdings war die gegenteilige Annahme einer absoluten und durch uns erkennbaren Realität salonfähiger, weswegen die Funktion der Erkenntniskritik so entscheidend war. Erkenntniskritik sollte jedoch nicht mit Relativismus und Skeptizismus gleichgesetzt werden, sondern als Bestimmungsgrundlage für sicheres Wissen fungieren, in Fichtes Worten eine „Wissenschaft des Wissens“ liefern. Das Ding an sich sollte also neben seiner negativen Funktion auch eine positive Wirkung entfalten, die für Kant hauptsächlich im Bereich des praktischen, für Schopenhauer auch in einer phänomenologisch erfahrungsimmanenten Erkenntnisweise zu suchen war. Daher könnte man für beide Denker sagen, dass sie sich des „Problems“ dieses Unterfangens bewusst waren. Mit Problem ist also eher „Problembewusstsein“ und sorgfältige Begriffsbestimmung gemeint und nicht eine unlösbare Schwierigkeit, da in beiden Konzeptionen, wie Du richtig sagst, philosophische Problemlösungsqualitäten mit dem Begriff des Dinges an sich zusammenhängen. Man denke nur an Kants antinomischen Weltbegriff… Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass für Kant und Schopenhauer selbst, der Außenweltskeptizismus und die Rolle des Gegensatzes Idealismus-Realismus insgesamt eine untergeordnete Rolle spielten, obwohl das in der Literatur und an einigen Stellen ihrer Schriften anders aussieht. Es ging vielmehr um eine umfangreiche systematische Grundlegung der Philosophie überhaupt, die in allen damaligen Disziplinen (Erkenntnistheorie, Logik, Ontologie/Metaphysik, Ästhetik und Ethik) vernünftiges, selbstständiges Denken und Handeln ermöglichen und mit Kritik an jeder dogmatisch auftretenden Lehrmeinung verbinden sollte. Daher sind die verschiedenen Interpretationsrichtungen, die ich oben erwähnte, aus Gründen der akademischen Sorgfältigkeit wichtig in meiner Arbeit. Mein eigener Ansatz besteht allerdings eher darin zu zeigen, wie durch Kant eine Tür hin zur Subjektivitätstheorie eröffnet wird, die dann bei Schopenhauer (und im deutschen Idealismus) ausgeführt und zu einer der fruchtbarsten Phasen der Philosophiegeschichte führte.

Bildstein: Du beleuchtest in Deinem Werk zahlreiche Gemeinsamkeiten und Unterschiede Kants und Schopenhauers in der Behandlung einer selben Frage: Was können wir über die Wirklichkeit wissen? Du tendierst in Deiner Arbeit zu einer perspektivischen Lektüre, die Du sowohl bei Schopenhauer als auch bei Kant geltend machst. Es ist ein und dieselbe Welt, mit der sich beide Denker beschäftigten und die, wie Du eben meintest, aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. Subjektivitätstheoretisch heißt das, dass das erkennende Subjekt sich die Welt entweder als Erscheinung/Vorstellung oder als Wille/Ding-an-sich vorstellt. In der Kant-Forschung fällt dieser perspektivische Ansatz unter die Zwei-Aspekte-Theorie, über die Du eben gesprochen hast, in der Schopenhauer-Forschung unter die hermeneutische Lesart. Weder Schopenhauer noch Kant scheinen also wirklich – wie man ihnen oft vorgeworfen hat – an einem ontologischen Unterschied zwischen zwei real verschiedenen Welten festzuhalten. Trotzdem widmest Du einen Hauptteil Deiner Dissertation dem, was Du die „Überwindung“ der Transzendentalphilosophie nennst. Deutet der Begriff der „Überwindung“ nicht auf eine definitive Abkehr von der transzendentalen Perspektive hin, die weder Kant noch Schopenhauer anstreben? Müsste man nicht eher von einer „Ergänzung“ oder „Weiterführung“ der transzendentalphilosophischen durch die metaphysische Perspektive sprechen? Ist eine wirkliche Überwindung der Transzendentalphilosophie nicht erst dann möglich, wenn die Unerkennbarkeit des Dinges an sich widerlegt wird, an der Kant allenfalls, aber auch Schopenhauer, trotz seiner metakantischen Identifikation des Willens mit dem Ding an sich, bis zum Ende festhält?

Gebrecht: Schopenhauer glaubt ja in der Tat, dass das Ding an sich durch gewisse Veränderung der kantischen Erkenntnistheorie innerhalb transzendentalphilosophischer Grenzbestimmungen erkennbar oder vielleicht besser: erfahrbar ist. Auch Kant geht im Bereich des Praktischen über seine theoretischen Erkenntnisgrenzen hinaus, besteht aber darauf, dass auch eine Metaphysik der Sitten transzendentalphilosophisch ist. Die Frage besteht also darin, in welcher Hinsicht (oder aus welcher Perspektive) das Ding an sich erkannt werden kann. Du sprachst vorhin von einer leiblichen Erfahrung des Willens, die begriffsanalogisch auf die ganze Welt übertragen wird. Das ist meines Erachtens Schopenhauers metaphysische Überwindung, die ich in dem von dir angesprochenen Teil skizziere. Metaphysisch deshalb, weil hier ein speziell intelligibler Seinsbereich des Dinges an sich, den Kant noch anhand der traditionellen Dreiteilung Seele-Welt-Gott kritisch restringiert und als regulative Ideen beibehält, von Schopenhauer komplett verworfen und willensmetaphysisch umgedeutet wird. Der zweite „Aspekt“ bei Schopenhauer liegt nun darin, die Willensmetaphysik als subjektivitätstheoretische Daseinshermeneutik zu begreifen, die in kritischen Grenzen interpretiert werden kann. Letztlich funktioniert das meiner Meinung nach nur praktisch, da die Interpretation der Negativität des Willens hier zu erfahrbaren Konsequenzen führt. Denn die Einteilung der theoretischen Philosophie erfolgt nach meiner Lesart bei beiden relativ traditionell. Es gibt eine Ontologie, die nun allerdings in kritischer Absicht, die Bedingungen möglicher Erfahrung oder aristotelisch die allgemeinen Grundbestimmungen des Seienden als solchen konzipiert. Die Metaphysik besteht in einem übersinnlichen Seinsbereich, den Kant in gewissen Grenzen fortführt. Schopenhauer verwirft ihn in seiner traditionellen Form komplett und knüpft hier mit seiner Willensmetaphysik an. Für Kant besteht der „stolze Name der Ontologie“ in einer regelgeleiteten Verknüpfung der Kategorien (als termini ontologici) mit dem vorgefundenen Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung. Für Schopenhauer besteht dieser Name in einer apriorischen Anwendung der verschiedenen Gestaltungsformen des Satzes vom Grunde auf die Erfahrungswelt, woraus diese erst konstituiert wird. Die formale Klärung der subjektiven Vermögensleistungen ist das, was nun unter anderen Vorzeichen Ontologie, allerdings im Sinne einer „Erscheinungsontologie“ bezeichnet werden kann. Schopenhauer geht nun durch die immanente Willenserfahrung und deren Verallgemeinerung theoretisch weiter als Kant, was problematisch ist. In meiner Interpretation ist allerdings die praktisch begründete Metaphysik in Schopenhauers Ethik auch angelegt und ebenfalls durchführbar. Das heißt, dass bei beiden das Ding an sich gedacht werden können muss. Bei Schopenhauer kann es theoretisch, bei Kant praktisch begründet, erkannt werden. In der theoretischen Erfassbarkeit bei Schopenhauer liegt meines Erachtens die Überwindung, die inhaltlich natürlich auch im weiteren Verlauf erhebliche Modifikationen sowohl in der Ästhetik als auch in der Praxis nach sich zieht.

Bildstein: Ich verstehe. Du wendest Dich in Deiner Dissertation vor allem gegen zwei Schopenhauer-Forscher: Martin Booms und Kai Haucke. Du wirfst beiden Autoren eine „vernichtende Kritik“ der schopenhauerschen Philosophie vor, die durch eine „methodisch strikt lineare Lesart der vier Bücher der Welt als Wille und Vorstellung“ ermöglicht wird. Warum ist eine lineare, einseitige Interpretation des Hauptwerkes in Deinen Augen eine falsche Herangehensweise an Schopenhauers System? Zahlreiche Kritiker gehen mit Schopenhauer hart ins Gericht, weil sie in seinen Schriften Aporien entdecken, die in ihren Augen die Gesamtstruktur des philosophischen Gebäudes erschüttern. Interpreten wie Daniel Schubbe haben jedoch wirkungsvoll gezeigt, dass man die Aporien im Gegenteil performativ als wichtige Bausteine des Systems, ja als seinen eigentlichen Motor verstehen kann. Wie kommst Du mit den Aporien innerhalb Deiner subjektivitätstheoretischen Lesart zurecht?

Gebrecht: Es geht weniger um eine lineare Lesart, die ich auch selbst in gewisser Hinsicht teile, sondern um eine selektive Verabsolutierung eines Systemteils, der dann gegen alle anderen Aspekte ausgespielt wird. In methodischer Hinsicht findet ebenfalls eine eindimensionale Betrachtung statt, die entgegen Schopenhauers ausdrücklichen Bemerkungen wirklich „gegen den Strich“ etabliert wird. Bei Booms ist das idealtypisch mit Blick auf das erste Buch zu konstatieren. Die transzendentalphilosophischen Prämissen des ersten Buchs Die Welt als Vorstellung werden systematisch gegen den metaphysischen, ästhetischen und ethischen Teil ausgespielt. Der ständig wiederholte Vorwurf, alles widerspreche der Erkenntniskritik, die im ersten Buch mantraartig wiederholt wird, geht allerdings ins Leere, da Schopenhauer ja bereits im ersten Paragraphen von einer nur „vorläufigen Wahrheit“ spricht. Das heißt nicht, dass bei Schopenhauer alles mit einer perspektivischen Lesart gerechtfertigt werden kann. Auch ich sehe Schwierigkeiten mit Blick auf die Erkenntniskritik, wenn es darum geht, eine subjektiv erfahrene, voluntative „Gewissheit“ analogisch auf die gesamte Welt zu übertragen. Ähnliches hatte bereits Kant selbst gegen Descartes angemerkt, indem er sagte, entweder sei das „Ich denke“ rein biographisch und somit anspruchslos oder es wird ein logischer Syllogismus etabliert, der alles Denkende als seiend bestimmt, damit aber auf unbewiesenen metaphysischen Prämissen aufbaut. Ähnliches könnte man bei Schopenhauers „wollendem Ich“ konstatieren. So wird Schopenhauers eigener Anspruch, eine neue Hinsicht auf die Welt einzunehmen gewahrt und trotzdem kritisiert, ohne auf die erkenntniskritischen Standards aus dem ersten Buch rekurrieren zu müssen, die Schopenhauer nur für einen Teil der Welt, nämlich die Vorstellung, gelten lässt. Für Haucke gilt dasselbe mit Blick auf das vierte Buch, indem die soteriologischen Aspekte eine mystifizierende Überinterpretation erfahren, die Schopenhauer zwar stellenweise nahelegt, aber letztlich immer wieder einschränkt und metaphorisch verwendet. Allerdings ist ein zu extremer Perspektivismus, der Schopenhauer von jeder Kritik freispricht auch nicht hilfreich, weswegen ich versuche, verschiedene Ansichten zu unterscheiden und anschließend auf ihre Vereinbarkeit zu überprüfen. Das ist, so denke ich, auch Schubbes Ansatz, wobei ich Schopenhauer gegenüber eher als advocatus diaboli auftrete und nicht von Aporien, sondern von Dialektik sprechen würde. Schopenhauer würde mir jetzt sicherlich erwidern, ihn überhaupt nicht verstanden zu haben. Wenn man allerdings „Dialektik“ in Platos Sinn als sinnvolle Verknüpfung vordergründiger Paradoxien (z.B. Welt als Wille und Welt als Vorstellung oder Erkenntniskritik und Metaphysik) versteht, dann glaube ich, dass der Motor aus dem Widerstreit dialektisch aufgelöst werden kann. Denn in Platos (leider auch in Hegels Dialektik) geht es ja gerade darum, nicht beim Widerspruch oder der abstrakten Negation stehen zu bleiben, sondern die Entgegengesetzten auf einer höheren Ebene oder in anderer Hinsicht zu vereinen, während die Aporie in der Regel unaufgelöst oder ausweglos bleibt. Das heißt, dass ich hier in der Sache völlig d´accord mit Daniel Schubbe bin und auch meine, dass Schopenhauer Gegensätze verwendet, um sein System wie einen lebendigen Organismus von einem Extrem ins andere organisch fortzutreiben. Vom Begriff her finde ich, auch aufgrund einer gewissen ironischen Note, „Dialektik“ sympathischer, wohl wissend, dass Schopenhauer mit Blick auf alle weiteren Implikationen, die dieser Begriff bei Hegel mit sich bringt, zu Recht heftig widersprechen würde. |

Der Anlass des Gesprächs:

Raphael Gebrecht: Wandlungen des Transzendentalen. Das Problem des Dinges an sich bei Kant und Schopenhauer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2023. | mehr erfahren (externe Verlagsseite)

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