Blog-Layout

... Natalie Duţescu

12. Februar 2024

In der Rubrik "5 Fragen an..." stellen wir Schopenhauer-Kennerinnen und -Kenner aus dem In- und Ausland vor. In dieser Folge beantwortet unsere Fragen die Philosophin Natalie Giuseppina Duţescu.


1. Wie sind Sie zur Philosophie Schopenhauers gekommen?

Kennengelernt habe ich Schopenhauer im Philosophie-Unterricht als „Lehrer Nietzsches“, dessen Sprache mich im Alter von 17 Jahren weitaus stärker begeistert hat und mir näher lag. Erst im Philosophiestudium, das ich nach einigen Jahren im Lehrberuf aus Interesse aufnahm, habe ich Schopenhauer wiederentdeckt, der mich in der ruhigen Auseinandersetzung dann tief und nachhaltig beeindruckte.


2. Gibt es einen Aspekt an der Philosophie Schopenhauers, der Sie besonders interessiert?

Gepackt hat mich die Entzauberung der Stellung des Egos und der Ratio als dessen Zugang zur Selbst- und Welterschließung und letztendlich auch zur Ermächtigung über diese. Für mich bebt hier das Epizentrum der "Welt als Wille und Vorstellung". Schopenhauer entzieht dem menschlichen Subjekt die Selbstgewissheit, konfrontiert es mit seiner atomistischen Position und zeigt zugleich durch eine Kontextualisierung in einen Zusammenhang mit allem, das lebt, eine Alternative. Damit minimiert er die Fallhöhe und bettet darüber hinaus dieses vermeintlich verlorene Ich pathozentrisch ein, sodass ein Fundament für eine sehr zugängliche und praktikable Moral entsteht. Für mich gesprochen ist das der „eine Gedanke“, der sein Werk für mich so anschlussfähig macht.


3. Welche Rolle spielt Schopenhauer für Ihre Arbeit?

Schopenhauer hat mein allgemeines Verständnis von Philosophie als Wissenschaft transformiert. Zu Beginn meines Studiums habe ich Philosophie als Kultivierung des Denkens zur Selbst- und Welterkenntnis betrachtet. Die Kritik am Rationalismus und Solipsismus hat mich insofern produktiv desillusioniert, als dass ich die Perspektive auf Philosophie als eine Deutungs- und Verständigungswissenschaft gewonnen habe. Der Weg zur Erkenntnis verläuft intersubjektiv entlang der Distanz zur eigenen Vorstellung hin zum intersubjektiven Austausch. Diese Selbstdistanz prägt auch meine Haltung zum moralischen Denken, Handeln und Urteilen, das ganz wesentlich von Schopenhauers Differenzierung zwischen populärer und moralischer Freiheit durchdrungen ist: Freiheit bedeutet nicht Freiheit zum Ego, sondern vom Ego. Hier entspinnt sich ein deliberativer Grundgedanke, der meine Forschung seitdem flankiert und mich nicht mehr loslässt.


4. Worin sehen Sie Schopenhauers Aktualität?

Aktuell lassen sich ausgehend von Schopenhauer für mehrere aktuelle Diskurse aussichtreiche Zugänge entwickeln. Allem voran in der Debatte über die sogenannte „Remigration“, in deren Zuge und Vorfeld immer auch verhandelt wird, welche Person aufgrund welcher Merkmale zu welcher Gemeinschaft gehört und mit welchen Rechten sie ausgestattet ist, wäre eine Orientierung an Schopenhauers Mitleidsethik fruchtbar ganz unabhängig davon, ob sie willensmetaphysisch oder existenzphilosophisch begründet wird.
Geschlecht, geschlechtliche Identität, ethnische Herkunft, Hautfarbe, kulturelle oder religiöse Prägung, Staatsangehörigkeit wären bloße Erscheinungen. Bedeutsamer wäre, Teil des selben Willens, Miterlebende der selben Existenz, leidensfähig zu sein. Wer des Leidens fähig ist, demgegenüber bin ich als potentielle*r Urheber*in seines Leidens gegenübergestellt.  Ein solcher Gerechtigkeitsbegriff wäre durch keine Ideologie auslöschbar.


5. Wo sehen Sie Entwicklungspotentiale in der Auseinandersetzung mit Schopenhauer?

Vor dem Hintergrund der Leidensfähigkeit als moralischen Wert scheint mir Schopenhauer im Bereich der postkolonialen bzw. dekolonialen Theorien erstaunlich unterrezipiert zu sein. Auch philosophiegeschichtlich wäre Schopenhauer hier insofern interessant, als dass er sich sowohl als Kritiker des Deutschen Idealismus profiliert als auch außereuropäisches Wissen als solches betrachtet und in sein Werk eingearbeitet hat, während die meisten seiner Zeitgenossen rein eurozentrisch dachten und ausschließlich in diesem Raum Wissenssubjekte anerkannten. Darüber hinaus findet sich Schopenhauers ablehnende Haltung gegenüber der Sklaverei an mehreren Stellen. Konsum und Genuss auf Kosten der Leiden ganzer (Bevölkerungs-)Gruppen markiert er sehr eindeutig als Schandfleck der Menschheit und Bosheit. Wenngleich mir bewusst ist, dass er sich aufgrund seines an einigen Stellen durchscheinenden naturalistischen Frauenbildes aus dem Kreise der Denker*innen, die für im kritischen Sinne emanzipatorische Forschung eine Quelle sein können, auf den ersten Blick schnell und auch leichtfertig streichen lässt, bin ich sicher, dass sein Denken inhaltlich an dieser Stelle noch nicht ausgeschöpft ist. |
 
25 März, 2024
David Bather Woods und Timothy Stoll legen einen umfassenden Sammelband zur Philosophie Schopenhauers vor.
22 Jan., 2024
Barbara Neymeyr legt einen umfassenden Kommentar zu Nietzsches "Schopenhauer als Erzieher" vor.
27 Dez., 2023
Jan Kerkmann stellt seine neu erschienene Habilitationsschrift zum Idealismus bei Berkeley, Kant und Schopenhauer vor.
24 Nov., 2023
Tom Bildstein und Raphael Gebrecht im Gespräch über Kant und Schopenhauer.
06 Nov., 2023
Oliver Brown about the workshop "Mythos and Logos" in Sinaia.
16 Okt., 2023
Rainer Ostendorf stellt Schopenhauer-Zitate in der "Freidenker Galerie" vor.
25 Sept., 2023
Alessandro Novembre stellt sein neues Buch vor, das die Genese und die Aporien von Schopenhauers Hauptwerk thematisiert.
04 Sept., 2023
Die italienische Philosophin spricht über ihren Weg zu Schopenhauer und seine Aktualität.
15 Aug., 2023
Sophia Wege stellt ihre Habilitationsschrift zu Schopenhauer und Fontane vor.
Weitere Beiträge
Share by: