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Schopenhauer zwischen Kunst und Literatur: ein Tagungsrückblick


27. Dezember 2022 | Gastbeitrag

Von Fiorella Giaculli

Am 4. und 5. November 2022 fand in Santa Maria di Leuca die vierte nationale Tagung der italienischen Sektion der Schopenhauer-Gesellschaft statt. Schopenhauer zwischen Kunst und Literatur war das Thema der Tagung, die vom Centro interdipartimentale su Schopenhauer e la sua scuola der Università del Salento gefördert wurde. Die Tagung wurde von einem wissenschaftlichen Kuratorium organisiert, das aus den Professoren Domenico M. Fazio, Fabio Ciracì, Mario Carparelli und der Doktorin Giulia Miglietta bestand. Unter den Referentinnen und  Referenten waren u. a. der Präsident der Schopenhauer-Gesellschaft Frankfurt am Main, Prof. Matthias Koßler, die Geschäftsführerin der Kant-Forschungsstelle der Universität Mainz, Dr. Margit Ruffing, und Mitglieder der italienischen Schopenhauer-Forschungsstelle.

Die diskutierten Vorträge waren sehr heterogen, jedoch durchzogen von gemeinsamen Fragestellungen, wiederkehrenden Begriffen und ähnlichen Deutungsansätzen, die mit den Makrothemen der Ästhetik und Literatur verbunden sind. Ein Teil der Vorträge untersuchte Aspekte von Kunst und Literatur innerhalb der schopenhauerschen Philosophie, während ein anderer Teil den Einfluss des schopenhauerschen Denkens auf Kunst, Literatur und Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts thematisierte. Man kann entsprechend einen doppelten hermeneutischen Blick ausmachen: einerseits auf Schopenhauers Werke, andererseits auf ihre Wirkungsgeschichte.

Die Tagung wurde mit einem Vortrag von Giuseppe Invernizzi über Schopenhauer und die Musik eröffnet, der einige entscheidende Fragen der schopenhauerschen Ästhetik behandelte und kontrovers diskutiert wurde: Was sind die Ideen? – nebenbei der Titel seines Vortrags – fragte Marco Segala, der eine aristotelische Deutung von Schopenhauers „platonischen“ Ideen vorschlug und auch die Veränderung des Begriffs der Idee, als species, in der Naturphilosophie herausstellte. Musik drücke im Gegensatz zu anderen Kunstformen nicht eine Idee aus, sondern den Willen. Nach Auffassung von Invernizzi ist eine Musik, die den Willen verneint, aber nicht möglich. Vor dem Nichts bleibt die Stille, brachte Giulia Miglietta als Gedanken ein, denn tatsächlich ist Mystik als unmittelbare Erkenntnisform nicht kommunizierbar, sondern nur erfahrbar. Domenico M. Fazio unterstrich, dass die Musik die Metaphysik sagt, und dass die wahre Musik für Schopenhauer die symphonische Musik ist. Fazio hat entsprechend die Unterschiede zwischen Schopenhauers Musikinterpretation und der Musikauffassung bei Denkern der Schopenhauer-Schule stricto sensu herausgestellt. Als Beispiel führte er Wagner und Frauenstädt an: Während bei Schopenhauer Musik unabhängig vom Text ist, muss bei Schopenhauerianern wie Wagner und Frauenstädt die Musik mit dem Wort vereint sein. Dagegen ist Schopenhauers Meinung nach das klare Wort, das den Gedanken adäquat ausdrückt, die Grundvoraussetzung von Literatur und Philosophie. Dieser literarische und künstlerische Aspekt wurde im Vortrag von Fiorella Giaculli thematisiert.

Als grundlegende Elemente der schopenhauerschen Ästhetik analysierte Margit Ruffing die Begriffe der Schönheit und des Schönen. Sie erklärte den kognitiven Wert der Schönheitstheorie und veranschaulichte, dass die menschliche Schönheit von Schopenhauer als die vollkommenste Objektivation des Willens konzipiert wird. Eleonora Caramelli untersuchte den Stellenwert des Gedichts in Schopenhauers ästhetischen Vorlesungen und betonte die Analogie zwischen der ästhetischen Erfahrung und der Traumerfahrung, da beide ein Schauen und ein Erschaffen seien. Caterina Sofia Mastella Allegrini skizzierte die wichtige Rolle der Griechen und der Klassiker für Schopenhauers künstlerisches, aber auch literarisches und philosophisches Denken. 

Weitere Vorträge der Tagung untersuchten, nach einem Ausdruck von Thomas Mann, die „Spur“ des schopenhauerschen Denkens in der Kunst und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und ihre Ausgestaltung: Fabio Ciracì verdeutlichte Schopenhauers Einflüsse auf Giorgio De Chiricos metaphysische Konzeption: Wo für gewöhnlich die historiographische Tradition den direkten Einfluss Nietzsches auf De Chirico sieht, zeigt Ciracì, dass es sich bereits um einen schopenhauerschen und sogar „schopenhauerisierten“ Nietzsche handelt, indem Schopenhauers Metaphysik der Kunst mit Nietzsches ästhetischer Rechtfertigung des Lebens verbunden wird. Mario Carparelli hat unter den schopenhauerschen Spuren bei Maupassant das Lachen und den Pessimismus hervorgehoben. Ein Punkt, der auch Christian Invidia beschäftigte: Er führte das Lachen als authentische Lebenseigenschaft bei Carmelo Bene auf Schopenhauer zurück. Fabio Grigenti wies darauf hin, dass der schopenhauersche Pessimismus auch in Houellebecqs Literatur behandelt werde. Er hat den Schwerpunkt der schopenhauerschen Philosophie (nach Houellebecq) im Vorstellungsbegriff und im Erkenntnisproblem identifiziert. Als Abschlussrede der Tagung veranschaulichte Matthias Koßler die Beziehung zwischen Romantik und dem Denken Schopenhauers, z. B. hinsichtlich der Einheitsfunktion des Absoluten und der Einheitsfunktion des Willens. 

Weitere Schwerpunkte der schopenhauerschen Philosophie werden sicherlich auf zukünftigen Tagungen untersucht. |


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