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... Søren R. Fauth


21. März 2023

In der Rubrik "5 Fragen an..." stellen wir Schopenhauer-Forscherinnen und -Forscher aus dem In- und Ausland vor. In dieser Folge beantwortet unsere Fragen der dänische Literaturwissenschaftler Søren R. Fauth.


Worin besteht Ihr Interesse an Schopenhauer?
 
Es gibt gleichsam keine Zeile bei Schopenhauer, die mich kalt lässt. Der Elan, mit dem geschrieben und gedacht wird, ist für mich einmalig in der deutschen Philosophiegeschichte. Der ‚eine Gedanke‘ enthält für mich eine außerordentlich plausible Totalerklärung der – mit Verlaub – Daseinsmiserabilität. Mein Mentor an der Universität Kopenhagen, Børge Kristiansen, der u.a. eine bahnbrechende Studie zu Thomas Manns "Zauberberg" und Schopenhauers Metaphysik geschrieben hat, verwies im Unterricht immer wieder auf Schopenhauers Denken und dessen Bedeutung für die Literatur. Mit 23 Jahren, während eines Studienaufenthaltes an der LMU in München, habe ich zum ersten Mal "Die Welt als Wille und Vorstellung" gelesen. Es gibt Lektüren, die lebensverändernd sind. Kein Buch hat in mir solche Spuren hinterlassen wie "Die Welt als Wille und Vorstellung".
 
Was hat Ihre Übersetzungen Schopenhauers ins Dänische motiviert?
 
Die kurze Antwort lautet Empörung! Ich bin vom Fach Germanist, habe nie Philosophie studiert. An der Universität Kopenhagen besuchte ich dennoch oft Philosophieseminare, z.B. bei Dan Zahavi. Zahavi darf zu den wichtigsten Vertretern der Philosophie Husserls gerechnet werden. Ich erinnere mich daran, dass ich bei ihm u.a. ein Seminar zu Heidegger belegte. Als ich Dan Zahavi am Ende des Semesters fragte, ob er Schopenhauer kenne, antworte er symptomatisch: ‚nein, er wisse nur, dass dieser eine schlechte Version von Kant sei‘. Zahavi, der übrigens sehr offen und entgegenkommend war, reproduzierte lediglich die seit eh und je distribuierten Stereotypien.
Ich war 27 Jahre alt, als ich mit der Übersetzung begann. Ich wollte um jeden Preis die dänischen Fachphilosophen aus ihrem Schlaf wecken. Zudem wusste ich, welche Rolle Schopenhauer für die skandinavische Literatur um 1900 gespielt hatte, und da die Deutschkenntnisse der kommenden Generationen rasant abnahmen, wurde es für mich immer klarer, dass ich die Arbeit auf mich nehmen musste. Fünf Jahre habe ich an der Übersetzung gearbeitet. Es gab unterwegs Augenblicke, in denen ich mein Unterfangen verfluchte. Die Probleme waren zahlreich: sollte ich, um nur ein Bespiel zu nennen, die langen und verschachtelten Sätze Schopenhauers in eine einfachere Satzstruktur zu übertragen versuchen? Der Verlag meinte ja, ich meinte entschieden nein. Man glaubt es nicht, aber als Übersetzer müssen zahllose Grundentscheidungen getroffen werden, und ich hatte absolut keine Erfahrung, wankte oft zwischen unterschiedlichen Strategien, war innerlich zerrissen, zweifelte und verzweifelte. Ich habe insgesamt 8 Korrekturen gelesen. Dieser jahrelange Prozess ging mit einer regelrechten Einverleibung einher. Schopenhauer kroch für immer unter meine Haut. Wenn ich in Dänemark Vorträge halte, erwähne ich immer, dass ich seit 30 Jahren im Bauch Schopenhauers existiere. Ich wohne in ihm, habe in seiner Sprache ein zu Hause gefunden, und wenn ich mich fremd in der Welt fühle (was oft der Fall ist), lese ich ein paar Seiten Schopenhauer und kehre innerlich wieder heim.  
 
Was sind die Schwerpunkte Ihrer Auseinandersetzung mit Schopenhauer?
 
Seine Bedeutung für die Literatur. In letzter Zeit R. M. Rilke (die "Duineser Elegien" und "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge"), Ingeborg Bachmann ("Malina"), Virginia Woolf ("Mrs. Dalloway"), Joseph Conrad, Musil und Kafka. Raabe natürlich allen voran. Einer der wichtigsten und entscheidendsten Augenblicke in meinem Leben als Literaturwissenschaftler fand in der Landesbibliothek Braunschweig statt. Ich wusste aus Raabes Tagebucheintragungen und Briefen, dass er Schopenhauer gelesen hatte, aber ich konnte nicht wissen wie, mit welcher Vehemenz!, er es getan hatte. Als seine Schopenhauer-Ausgaben auf einem mit Rädern versehenen Wagen durch den Lesesaal gerollt wurden, zitterte ich vor Aufregung. Als ich Raabes Handexemplare von "Die Welt als Wille und Vorstellung" durchblätterte, sah ich zu meiner Begeisterung, dass auf jeder Seite deutliche Lesespuren hinterlassen waren. Ich war ekstatisch! Raabe war ein großer Leser, u.a. auch von Lessing und Shakespeare, von Ovid und Jean Paul, von Seneca und Poe, aber so wie er Schopenhauer gelesen hat… Man muss es sehen. Nahezu jede Zeile ist mit Bleistift unterstrichen, am Textrand überall emphatische, bis zu vierfache Randstriche und Ausrufezeichen. Bei diesem Aufenthalt lernte ich Herrn Peter Wasmus kennen. Gabriele Henkel, die damalige Leiterin der Raabe-Forschungsstelle in Braunschweig, führte uns zusammen. Dafür bin ich ihr für immer dankbar. Herr Wasmus, der den Beruf eines Schornsteinfegermeisters ausgeübt hat, ist der profundeste Kenner der Philosophie Schopenhauers und der Weltliteratur, den ich kenne. Jahrelang haben wir fast täglich miteinander Gespräche über Schopenhauer geführt. Ich verdanke ihm eine Unzahl an Hinweisen auf Schopenhauer-Spuren in der Weltliteratur, auf Forschungsbeiträge usw. Für die deutsche Sprache hat Herr Wasmus übrigens ein absolutes Gehör! Der überaus anregende Austausch mit ihm hat erheblich zu meinen Schopenhauer-Fanatismus beigetragen.
 
Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach Schopenhauer für aktuelle Diskurse?
 
Schopenhauers Denken ist so relevant wie nie zuvor. In Europa herrscht wieder Krieg. Natürlich. Ich bin nicht überrascht. Der Mensch beutet die Natur aus. Der grenzenlose Egoismus unserer Spezies hat verheerende Folgen für unseren Planeten. Schopenhauers Philosophie liefert, wie immer, die Erklärungen. Kein Tag vergeht, ohne dass ich daran denke.
Wir wissen längst, dass wir dabei sind, unsere eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Die amoklaufenden Wachstums- und Beschleunigungsgesellschaften lassen sich nicht bremsen – der Wille hat nie genug. Ich lese zur Zeit mit Begeisterung Hartmut Rosa, wundere mich aber darüber, dass er nicht auf jeder Seite Schopenhauer zitiert.
 
Wo sehen Sie Entwicklungspotentiale in der Auseinandersetzung mit Schopenhauer?
 
Ich lasse es bei Stichwörtern bewenden: Humangenetik, Neurophilosophie (Kognitionswissenschaften), vor allem aber: Ökologie und Tierethik. Schopenhauers deskriptive, und insofern nicht erbauliche – weil realistische – Ethik sollte vermehrt diskutiert werden. Markus Gabriel hebt immer wieder nachdrücklich hervor, dass wir eine neue Aufklärung brauchen, die eine Ära der Besonnenheit und Nachhaltigkeit zeitigen solle. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind dezidiert furchterregend: Nebst der Zerstörung unserer Umwelt ist unsere Lebensqualität immens gefährdet. Noch nie zuvor leideten so viele Menschen unter Stress, Depression und Burn-Out wie heutzutage. Ich glaube fest daran, dass Schopenhauer nicht nur die Erklärungen liefert, sondern auch, dass seine einmalige, visionäre – geradezu progressive – Fusion westlicher und östlicher Philosophie die Bestandteile der heraufbeschworenen neuen Aufklärung enthält. |


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